Die Memel als Kompass, der Herzschlag als Sextant

Mit der Strömung - von Druskininkai bis Kaunas

Autorin: Petra Daniela Stein

Es ist unerklärlich, bescheuert und total versponnen... So viel steht fest! Aber es ist auch wahnsinnig schön! Ich bin wach - seit mindestens 30 Minuten - und grinse vor mich hin. So als wäre ich völlig irrational und unsterblich verliebt. Doch das ist es nicht! Die Glückseligkeit, die mich erfüllt, schöpft ihre Kraft aus einer anderen Quelle.

Zum ersten Mal auf dieser Reise bin ich aufgewacht und mein Kopf war nicht sofort voller Gedanken. Zum ersten Mal treibt mich nichts, drängt mich nichts, will nichts beantwortet oder geklärt werden. Ich liege einfach nur da und sehe durch eine Luke meines Wohnmobils wie langsam die Sonne über der Memel aufgeht. Es gibt keinen nennbaren Grund und dennoch macht plötzlich alles Sinn - mein komplettes, neuralgisch verdrehtes Leben. Es hat eine heilende Akupunktur-Nadel bekommen. Hier, in Druskininkai - einer der ältesten Kurstädte in Litauen. Nicht, weil ich eine medizinische Behandlung gemacht hätte. Nein. Ich bin einfach nur hier und die Dinge nehmen ihren Lauf. Die Heilung passiert wie von allein. Mein Leben fließt wieder. Und durch die kleine Luke meines Wohnmobils sehe ich auch schon in welche Richtung... flussabwärts, immer an der Memel entlang. Das ist nun mein Weg. 

Quadratschädel unter sich

Nur meine Ausrüstung ist nicht mehr die beste. Die Vorratsschränke in meinem Wohnmobil: leer gefuttert. Das Karten- und Informationsmaterial zu Litauen: dürftig. Meine Kenntnisse der Landessprache: mangelhaft. Bevor ich dem Fluss folgen kann, muss ich also in die Stadt. In das Zentrum von Druskininkai. Einkaufen, Besorgungen machen, ein litauisches Wörterbuch finden. Letzteres liegt mir besonders am Herzen. Ein Sprachlexikon! Ich will Litauisch lernen. So schnell wie möglich. Denn hier - im Heimatland meines Opas - möchte ich keine Touristin sein. Ich möchte mit den Menschen, die hier leben, auf Augenhöhe kommunizieren. Kurzum: ich möchte unbedingt dazu gehören! 


Optisch bin ich bereits assimiliert. Zumindest empfinde ich es so. Und schon wieder muss ich breit grinsen. Wie oft habe ich in meinem Leben gehört, ich würde "anders" aussehen - "tendenziell osteuropäisch"!? Lang, schmal, leptosom-athletisch - mit einem großen Kopf drauf und sehr blauen Augen. Wie oft fühlte ich mich wie ein "Alien" - vor allem damals als Kind. Ach, spielt alles keine Rolle mehr...

Es ist ein wunderschöner, sonniger Tag in Druskininkai. Ich marschiere - meinen "Quadratschädel" hoch erhoben - durch den Grutas Park, schmettere den anderen litauischen Quadratschädeln, die mir entgegen kommen, ein herzliches "Laba Diena" (deutsch: Guten Tag) entgegen und fühle mich einfach nur wohl in meiner Haut. Klar, die Stadt ist neu und fremd. Ich verstehe nicht, was auf den Schildern steht oder was die Menschen reden. Aber allein die Häuser, die ich sehe, geben mir ein vertrautes Gefühl. Es sind überwiegend Holzhäuser - eingebettet in die Natur. Sie erinnern mich an Opas Haus; an das Haus, das er 1958 in Bayern kaufte, nachdem er aus seiner Heimat Litauen hatte fliehen müssen. Er entschied sich damals für ein denkmalgeschütztes Haus mit einer dunkelbraunen Holzverkleidung... und ich verlebte die glücklichsten Stunden meiner Kindheit darin.


Ich bin nicht lange unterwegs. Vielleicht zwei Stunden. Dann habe ich das Gefühl, fast alles gesehen zu haben. Druskininkai ist recht klein und wahrlich kein Shopping-Paradies. Wer Mode, Schmuck und renommierte Label sucht, ist hier fehl am Platz. Dafür hat die Kurstadt andere Vorzüge. 7 Mineralwasserquellen zum Beispiel, 9 Sanatorien, eine wunderschöne russisch-orthodoxe Kirche - ganz in blau, eine Seilbahn über der Stadt und: eine einzigartige Naturlandschaft. Denn Druskininkai liegt nicht nur am Fluss und hat einen eigenen Wasserpark. Es liegt auch noch mitten in einem riesigen Kiefernwald. Es ist eine Waldstadt. Unvergleichlich schön!

Wäre ich an einer Schlamm- oder Klimatherapie interessiert oder wollte ich mit einem Boot die Wasserwege erkunden, wäre Druskininkai ein Traum für mich. Doch meine Prioritäten liegen woanders. Ich bin hier - in Litauen - weil ich den Ort finden möchte, der meinem Opa einmal alles bedeutete. Ich möchte das Haus finden, in dem er aufwuchs, in dem er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Das Fleckchen Erde, das einmal seine Heimat war. 150 Kilometer flussabwärts, irgendwo hinter Kaunas... da liegt es. Und ich bin überglücklich, dass ich nun endlich auf dem Weg dorthin bin. 

Ein Abstecher zur essbaren Tanne

Ich verlasse Druskininkai und folge der Memel (litauisch: Nemunas). Der Fluss ist der mächtigste Strom des Landes, der "Vater aller Flüsse" - wie die Litauer sagen. Eine Vorstellung, die mir sehr gefällt. Immer wieder blicke ich zum Seitenfenster meines Wohnmobils hinaus und rede mir ein, dass dieser breite Fluss, auf dem das Sonnenlicht tanzt und glitzert, nun tatsächlich so etwas wie ein Vater für mich ist. Ein Faktotum, das mich leitet und führt. Unerschütterlich. Wie ein guter Kompass. Ich weiss nicht, ob ein guter Vater so funktioniert. Ich hatte keinen. Ich weiss nur, dass mir die Memel auf unerklärliche Art und Weise Sicherheit und Orientierung auf meinem Weg gibt. Eigentlich ist das alles, was ich brauche - oder je gebraucht hätte. 

Zu meinem Glück würde jetzt nur noch eine Badestelle fehlen. Direkt am Fluss. Denn es ist heiß. Sehr heiß sogar. Der Boardcomputer meines Wohnmobils zeigt 31 Grad an. Gefühlt sind es aber 40. Und das, obwohl ich die ganze Zeit im Schatten fahre! Der Wald, von dem bereits die Stadt Druskininkai umgeben war, nimmt kein Ende. Im Gegenteil. Er wird jetzt sogar noch dichter. Mittlerweile durchquere ich den so genannten Dzukija Nationalpark - den größten Nationalpark Litauens. Keine Häuser, kaum andere Autos. Nur ich mit meinem Wohnmobil, rechts die Memel, links... Stopp! Was ist das? Ein geschnitzter Jesus? Ein Engel mit Trompete? Und: ein Schild mit einem merkwürdig gezackten Kuchen drauf? Hä? Ich bremse. Rückwärtsgang. Das will ich jetzt aber wissen. 

Ich halte bei den Figürchen am Straßenrand, würdige sie aber nur eines flüchtigen, zweiten Blickes. Der Kuchen scheint mir doch um einiges interessanter. Er sieht aus wie eine Tanne. Wie eine sehr lecker schmeckende Tanne. Ich google den Begriff, der mit auf dem Schild darunter steht: Sakotis. Aha! Es handelt sich um ein traditionelles litauisches Gebäck. Eine Art Baumkuchen. Und da ich heute noch nichts Süsses hatte... Yippie! Ab dafür! Ich reiße das Lenkrad herum und folge der kleinen Werbetafel in den Wald hinein. Eigentlich ist mein Wohnmobil viel zu groß für den kleinen Sandweg. Aber das blende ich mal aus. Schließlich geht es hier um Kuchen!


Ab jetzt geht es nur noch vorwärts. Jeder Gedanke an ein eventuelles Umdrehen - sinnlos. Denn selbst wenn ich wollte, könnte ich nicht. Die Gefahr, bei einem Wendemanöver im Sand oder im Wald stecken zu bleiben: viel zu hoch. Kurzum: ich erlebe mal wieder Nervenkitzel pur! Und ich liebe es! Was für ein herrlicher Tag! Was für ein spontanes Abenteuer! Ich drehe das Radio auf und lasse es auf mich zukommen, getreu meines Mottos: immer schön nach vorne gucken und das Beste hoffen! Und tatsächlich: es kommt auf mich zu. Ein kleines Dorf, mitten im Dzukija Nationalpark. 10 oder 15 Häuser, ein schmaler Fluss, ein winziges Restaurant... und darin: die lecker aussehenden Gebäcktannen, nach denen ich gesucht habe. Sakotis! Jetzt gehörst Du mir!


Es ist mir ein Rätsel, wie sich sowas rechnet. Wie kann ein Restaurant überleben - irgendwo im malerisch gelegenen nirgendwo? Außer mir ist kein einziger Gast hier und auch keiner in Sicht. Das komplette Dorf: wie leer gefegt. Doch das kann ich mit Sicherheit sagen: der Sakotis ist fulminant!!! Genau nach meinem Geschmack. Ein einfaches Gebäckstück ohne viel Dekoration und Tüdelkram. Aber mit echten Inhalten. Ich schmecke gute Butter, sauberes Mehl und dicke Landeier heraus. Ein Rührteig, wie ihn meine Oma nicht besser hätte machen können. Einfach spitze! Und so hübsch anzusehen. Ich drehe mir alles rein. Alle Zacken der Tanne. Den gesamten Baumkuchen. Und als ich fertig bin, wünschte ich, ich hätte noch einen gekauft. Auf Vorrat. Doch wie heißt es so schön: "Was man bereits besitzt, begehrt man nicht!" Also ziehe ich weiter und beschließe den Leckerschmecker-Tannenkuchen ein wenig zu vermissen... bis er mir sicher andernorts noch einmal begegnen wird.

Bunte Mütterchen und wilde Natur

Eigentlich könnte ich nun in einer der Hofeinfahrten wenden und zur Hauptstrasse zurück kehren, doch der Reiz des Unbekannten ist zu groß. Wo werde ich landen, wenn ich immer weiter geradeaus fahre? Wie viele Örtchen mag es geben - hier im tiefsten Dzukija Nationalpark? Und vor allem: was sind das für Menschen, die in dieser Abgeschiedenheit leben?

Mein Tank ist fast voll. Mein Kühlschrank - seit meinem Einkauf in Druskininkai - auch wieder. Was kann mir schon passieren? Ich schalte das Navi aus, lehne mich zurück in meinen Sitz und gebe Gas. Immer vorwärts. Nie zurück. Über eine Stunde fahre ich kreuz und quer durch die Wälder, sehe Rehe, Hasen, Greifvögel, Störche und allerlei wildes Getier in der Ferne. Doch kaum knattert mein Wohnmobil näher an die litauische Fauna heran, sind die Waldbewohner schon wieder verschwunden. Irgendwie unbefriedigend. Ich ringe ein wenig mit mir selbst - vor allem mit meinem Bauch, der noch immer recht voll gefressen nach vorne hin absteht und keine Lust auf Bewegung hat. Sitzen bleiben und weiter fahren wäre so bequem. Aber auch furchtbar langweilig. Nein! Ich halte! Ich will noch ein Stück zu Fuß gehen. Aber wo bin ich jetzt eigentlich?

Ich schmeiße meine Wanderklamotten über, springe aus dem Wohnmobil und klicke die Ortungsapp auf dem Handy an. Sie zeigt mir, dass ich zwischen Marcinkonys und Kapiniskiai stehe. Okay!??? So richtig schlau macht mich diese Auskunft nicht. Es sind nur Namen, die mir nichts sagen. Fakt ist: um mich herum sind nur Bäume, Bäume, Bäume und rechts ist eine kleine Holzbrücke. Die macht zwar keinen Sinn, weil darunter kein Gewässer fließt, aber vielleicht zieht sie mich ja gerade deswegen magisch an. Da will ich lang! 

Ich hüpfe vergnügt über die Brücke, folge dem Pfad weiter in den Wald hinein, dann wieder hinaus... auf eine Lichtung, vorbei an einer großen Wiese, überquere einen kleinen Fluss, wate durch eine Mosslandschaft... und plötzlich sehe ich ein kleines grünes Holzhaus vor mir. Es ist ungefähr 500 Meter entfernt und gibt komische Laute von sich. Ich vernehme ein "Au-Wau-Nau-Kau". Hört sich an wie der altertümliche Singsang aus einem verstaubten Kofferradio. Doch es ist keine Musik. Es ist ein altes Mütterchen, das die Blumen vor ihrem Haus gießt und dabei allerlei unerhörte Töne von sich gibt. Wie sie sich bewegt, was sie trägt, wie sie nur für sich singt... einfach ein faszinierender Anblick! 


Fast komme ich mir vor als sei ich in einem russischen Märchen gelandet. Oder in der Geschichte von Hänsel und Gretel. Doch nein! Bedrohlich sieht das Mütterchen nicht aus. Ich schleiche mich neugierig und sachte heran, um die alte Dame besser beobachten zu können. Hübsch sieht sie aus! So bunt und fröhlich - wie die Blumen, die rund um ihr Haus wachsen. Gerne würde ich auf der kleinen Holzbank vor ihrem Haus mit ihr Platz nehmen. Nichts sagen. Einfach nur da mit ihr sitzen, vielleicht ein kleines Lied zusammen anstimmen und gemeinsam zum Gemüsegarten hinüber sehen. Doch ich traue mich nicht, sie anzusprechen. Sie scheint ganz allein im Wald zu leben. Und ich will sie nicht verängstigen. Im Vergleich zu ihr sehe ich wirklich komisch aus - mit meinem weißen Anti-Mücken-Hemd, der dunkelbraunen Survival-Cargo-Hose und den elendig fetten Wanderstiefeln. 

O-ha! Was ist das? Gerade als mein Blick zurück auf den Sandweg vor mir fällt, entdecke ich eine gewaltig große Tierspur. Es sind die Abdrücke von Tatzen - mit Krallen! Vielleicht ein Luchs? Oder ein Wolf? Möglich ist hier sicher vieles, im Dzukija Nationalpark. 

Mein Instinkt sagt mir, dass ich nun umkehren sollte. Das Mütterchen mag an diese Wildnis hervorragend adaptiert sein und alleine zurecht kommen. Aber ich weiss viel zu wenig über die raue litauische Natur und ihre Lebewesen. Ich brauche noch viel Orientierung - ich brauche meine Memel als Kompass. 

Als ich wieder in mein Wohnmobil steige, ist es bereits 18 Uhr. Die Sonne hat ihre Aggressivität abgelegt und blinzelt mir jetzt milde und gewogen zu. Noch 130 Kilometer bis Kaunas. Ein Katzensprung! Wieder lege ich unweigerlich das breite Grinsen auf, mit dem ich am Morgen erwacht bin. "Opa, ich komme!" - schießt es mir durch den Kopf. "Ich komme heim. Zur Dir!" Und plötzlich wird mir wohlig warm, von ganz innen heraus. Mein Herz geht auf. Wie der Winkel eines Sextanten. Und ich weiß: in wenigen Stunden werden meine Füsse die Heimaterde meines Opas betreten und meine Hände werden Dinge berühren, die ihn einst berührten. Könnte mein Leben noch mehr Sinn machen als gerade jetzt - in diesem Augenblick? Nein. Zum ersten Mal weiß ich mit absoluter Sicherheit, dass ich genau das Richtige tue. 

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Kommentare: 4
  • #1

    Annemieke Engel (Sonntag, 07 August 2016 21:49)

    Klasse geschrieben und schöne Fotos

  • #2

    P.D. Stein (Montag, 08 August 2016 09:39)

    Liebe Annemieke, ein herzliches DANKESCHÖN für Deinen Kommentar! Ich freue mich sehr!

  • #3

    Michael Schalli (Montag, 08 August 2016 19:37)

    Mal wieder ganz toll geschrieben. Beim Lesen bekommt man das Gefühl als wäre man dabei.
    Danke.

  • #4

    Unwichtig (Samstag, 16 September 2017 04:25)

    Berührend und voll tiefster Sehnsucht.