Über Umwege ans Ziel: Litauen!
Autorin: Petra Daniela Stein
Heute ist es soweit! Die große Stunde naht... Noch etwa drei Stunden Fahrt liegen vor mir. Bis zur Grenze. Und ich bin so aufgeregt, nervös und gespannt, dass ich fast platze. Zum ersten Mal in meinem Leben werde ich litauischen Boden betreten. Die alte Heimat meines geliebten Opas. Ist das nicht absoluter Wahnsinn? Ja, für mich ist es das! Ich könnte weinen vor Glück. Jetzt schon. Obwohl ich nun seit einer Woche mit dem Wohnmobil unterwegs bin - mit dem festen Ziel Litauen, fühlt sich nun alles so unwirklich an. Als wäre ich noch immer in einem meiner alten Träume. 13 Jahre lang habe ich mir ausgemalt, wie es wäre, diesen Schritt zu gehen. 13 Jahre lang fehlte mir zuerst die Kraft und dann der Mut, es in die Tat umzusetzen. Aber heute werde ich es tun! Wahnsinn!!!
Der Zeigefinger trifft die Entscheidung
Nur einen Wermutstropfen gibt es. Um nach Litauen zu kommen, muss ich Masuren verlassen. Und das fällt mir etwas schwerer als gedacht. Ich habe mich in dieses Land verliebt. In die wilde Natur, die bestechend einfachen und liebevollen Menschen und das Wasser... das viele viele Wasser, mit dem diese Region im Norden Polens so reichlich gesegnet ist.
Gerne hätte ich noch eine Bootstour gemacht. Die Stadt Gizycko (deutsch: Lötzen), die genau in der Mitte zwischen den beiden großen Seen Niegocin (Löwentinsee) und Kisajno (Kissainsee) liegt, scheint als Ausgangspunkt dafür geradezu ideal. Ich stehe am Hafen und beobachte wie kleine und größere Ausflugsschiffe in alle Himmelsrichtungen ablegen. Manche fahren nur eine Runde über die Seen, andere steuern Flussverbindungen an, die zu weiteren Binnengewässern führen. Muss herrlich sein, wenigstens einen Tag lang über die Masurische Seenplatte zu schippern. Doch ich lasse es. Litauen zuliebe. Manchmal stelle ich mir vor, dass Opa noch lebt... dass er in der Ferne, hinter der Grenze, irgendwo in Litauen auf mich wartet. Und auch wenn das alles nicht stimmt - was mir durchaus klar ist - möchte ich unbedingt, dass er mich noch einmal in den Arm nimmt. Ein letztes Mal. Da hinten, in der Ferne, irgendwo hinter der Grenze. Ich drehe mich um. "Abmarsch!" "Los jetzt!" - zische ich mir in Gedanken zu. Doch die Beine wollen nicht so richtig. Was ist nur los mit mir? Bekomme ich jetzt etwa weiche Knie... so kurz vor knapp?
Ich gehe ein paar Schritte, dann fällt mein Blick auf den alten Wasserturm von Gizycko. Ein Überbleibsel aus dem 19. Jahrhundert. So richtig vom Hocker haut mich die Architektur nicht, trotzdem zieht mich die Warte magisch an. Aha! Verstehe! Ganz oben, im Kopf des Turms, gibt es eine Verlockung: ein Cafe. Na gut, was soll's!? Ich steige die Treppen hinauf - für einen letzten Blick über die Masurische Seenplatte und einen schönen Pott Kaffee dazu. Doch dann passiert, was meistens passiert, wenn mich meine Intuition auf "Abwege" geleitet. Ich entdecke etwas und ändere spontan meine Pläne. In diesem Fall ist es eine Zeitschrift über die Natur- und Nationalparks im Norden Polens. Während die anderen Gäste im Cafe ihre Tortenstücke verschlingen und die Aussicht genießen, verschlinge ich dicke Texte über Urwälder, Elche, Dachse, Luchse, Wölfe, Rot- und Rehwild, Biber... Jesusmariaundjosef!!! Soll ich jetzt etwa weiter fahren und das alles verpassen? Nein!
Mit einem Mal beschließe ich, dass ich noch nicht so weit bin - für Litauen! 3 bis 4 Stunden Aufschub. Mehr will ich gar nicht. Noch einmal tief durchatmen - in irgendeinem Wald, irgendeinem Nationalpark. Genau das brauche ich jetzt! Und das Schicksal soll entscheiden, wo mich die Ehrenrunde hinführen soll. Ich schließe die Augen und hebe den rechten Zeigefinger... um ihn dann mit einer ungestümen Geste blind in die Zeitschrift vor mir zu stechen. Ha! Puszcza Borecka - ein Urwald in der Region Elk/Goldap. Da fahre ich jetzt hin!
Kleine Tiere, große Freuden
Irgendwo tief in mir drin weiss ich, dass diese Ehrenrunde in die Puszcza Borecka nur ein Vorwand ist. Eine Flucht. Weil ich Angst habe. Vor der Grenze. Vor Litauen. Und vor der unabwendbaren Erkenntnis, dass Opa dort eben nicht auf mich wartet. Doch ich bin Meisterin im Verdrängen. Und besonders gut klappt es, wenn ich mir neue, ambitionierte Ziele stecke. Jetzt will ich einen Elch finden! Jawohl! Als ich letztes Jahr in Schwedisch Lappland herum kurvte, war das das absolute Highlight meiner Reise: eine Herde Elche - auf ihrem Weg, allein, im meterhohen Schnee. Und ich hinterher. Trotz minus 36 Grad. Ist es verrückt, dass mir solche Erlebnisse mehr bedeuten als ein Luxus-Urlaub an der Cote d'Azur?
Mein Herz schlägt höher als ich in das Naturschutzgebiet einbiege. Eine schöne holprige, schlammige Strasse liegt vor mir. Ach, wie ich das liebe! Wenn die Stoßdämpfer stöhnen und der Matsch am Fenster hoch spritzt. Eine zeitlang fahre ich nur und fahre... immer tiefer in den Urwald hinein... und freue mich über jeden Modder und Pamps, der mir entgegen fliegt. Dann kreuzt plötzlich ein Seeadler meinen Weg und ich werde wieder ruhiger. Mir fällt auf, dass es in diesem Urwald unzählige Sümpfe, Teiche und überschwemmte Wiesen gibt. Und dass dieses Gebiet wirklich riesig ist. Im Internet stand: 230 Quadratkilometer. Ich schätze, man könnte tagelang hier umher laufen und hätte noch nicht einmal einen Bruchteil gesehen. In welchem Teil der Puszcza Borecka wohl die Elche leben mögen? Wo soll ich mit meiner Suche anfangen?
Immer wieder parke ich am Wegesrand und marschiere in den Wald hinein. Immer wieder sehe ich Schilder mit Tiersymbolen, Hochsitze und Markierungen. Aber ich werde nicht so richtig schlau aus der Sache. Bald ist mir klar: ein Elch wird mir hier nicht über den Weg laufen. So nicht! Die Puszcza Borecka erschlägt mich förmlich - mit ihren hunderten Wanderwegen, tausenden Bäumen und unzähligen Wasserstellen. Zum ersten Mal auf dieser Reise wünschte ich, ich hätte einen Ranger angeheuert. Ohne Ortskenntnisse und ohne Kompass muss ich leider aufgeben. Aber natürlich nur meine Elch-Pläne.
Wenn alle Stricke reißen, alle großen Pläne scheitern, dann bleiben immer noch sie: die kleinen Freuden. Ja, diese Weisheit stammt aus meiner Feder. Ich habe es dutzende Male erlebt. Und es hat jedes Mal funktioniert. Man muss den Blick nur umlenken. Und genau das tue ich jetzt. Statt nach großen Elchen zwischen riesigen Bäumen Ausschau zu halten, konzentriere ich mich nun auf das, was vor, unter oder neben meinen Füssen ist: jede Menge Klein- und Kleinstlebewesen! Ich entdecke einen Maikäfer und kann es kaum glauben! Wann habe ich zuletzt einen Maikäfer gesehen? Das muss in meiner Kindheit gewesen sein. Dieser hier sieht richtig fett und wohlgenährt aus - wie er auf seinem Blatt thront. Herrlich!
Ein paar Meter weiter ist ein Tümpel - und es quakt aus allen Löchern. Doch auch Wasserfrösche zeigen sich nicht einfach so. Auch sie haben ihren Stolz und ihre Tarnung. Sie wollen gefunden werden. Also stake ich so sachte wie möglich am Ufer entlang - die grünlich verfärbte Wasseroberfläche stets im Visier... bis ich das erste Augenpaar entdecke, das meinen Blick erwidert. Winzig ist es. Ein winziger, grüner Wasserfrosch. Und daneben gleich noch einer. Und noch einer. Ich beobachte, wie sie ihre Backen aufblasen, um Weibchen anzulocken. Etwas weiter hinten im Wasser hat sich bereits ein Pärchen gefunden. Zwei Gelbrandkäfer beim Liebesspiel. Und ich die Voyeurin, die ihnen dabei zusieht. Beobachtungen wie diese mögen anderen Zeitgenossen wenig bis nichts bedeuten. Mir hingegen öffnen sie das Herz - für die Wahrheit. Es gibt keinen einzigen Grund, warum das Leben eines Frosches oder Gelbrandkäfers weniger wert sein sollte als das meine. Jedes Lebewesen ist schlau - auf seine eigene Art und Weise. Jedes Lebewesen ist es wert, geschätzt zu werden.
Es kommt nicht darauf an, dass man stark ist
Die Lungen voller Waldluft, steige ich zurück in mein Wohnmobil und drehe den Zündschlüssel herum. Noch immer habe ich ein wenig Angst davor, was mich in Litauen erwarten wird. Doch mit einem Mal fällt mir ein, was Opa in solchen Situationen immer sagte - wenn mich Zweifel und Versagensängste plagten. Er sagte: "Es kommt nicht darauf an, dass man stark ist. Es kommt darauf an, dass man sich stark fühlt." Und ja, ich fühle mich stark. Allein schon, weil Opas Blut in meinen Adern fließt - weil ich seine Enkelin bin! Ein Stein in der Brandung. Ein zäher Baum im Wind. Ein Wille, der nicht bricht.
Die Sonne steht schon tief am Horizont als ich das blaue EU-Schild mit den 12 Sternen und der Aufschrift "Lietuvos Respublika" endlich vor mir entdecke. Vielleicht noch 10 Sekunden, jetzt 5... 3, 2, 1... Mein Wohnmobil rollt über die Grenze! Ich bin in Litauen! Nach 13 Jahren bin ich in der alten Heimat meines Opas... Angekommen!
Worte können nicht beschreiben, was in diesem Moment in meinem Kopf vorgeht, welche Gefühle mich übermannen... Es ist von allem etwas - von allem das Intensivste! Wie eine Geburt vielleicht, nachdem man sehr lange in den Wehen lag. Vor meinen Augen tut sich zum ersten Mal eine ganz neue Welt auf. Und ich sauge sie auf - mit jedem Blick, mit jedem Atemzug....
Tausende Eindrücke, Gedanken, Empfindungen strömen auf mich ein. Bunte Holzhäuser, mächtige Flüsse, ein weites Land, schier unendlich weit... So viele Möglichkeiten, so viele Optionen. Alles kann jetzt passieren. Ich bin da!
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