Was braucht der Mensch und wieviel davon?

Natur und Leben in Masuren

Autorin: Petra Daniela Stein

Manchmal passieren merkwürdige Dinge. Manchmal rechnet man mit dem Besten und erfährt das Schlimmste. Und manchmal rechnet man mit nichts und plötzlich wird dieses Nichts Alles - ein ganzes Universum voller Möglichkeiten und Antworten auf Fragen, die man sich zuvor noch nicht mal gestellt hatte. Ja, so kann man es sagen. So kann man sie beschreiben - meine Reise durch Masuren. 

Als ich morgens mit dem Wohnmobil losfahre, ist Masuren nur ein Durchgangsland für mich. Ein notweniger Streckenabschnitt, um von der polnischen Ostsee nach Litauen zu gelangen. Mehr nicht. 500 ätzende Kilometer, auf die ich überhaupt keine Lust habe. Denn das Navi zeigt mir nicht einmal eine Autobahn an, die ich benutzen könnte. Nur Landwege. Und ich weiß mittlerweile was das in Polen bedeutet... Löcher, Löcher und noch mal Löcher in der Strasse... Naja, was soll's. An einem Tag werde ich das ja wohl schaffen. Und dann bin ich endlich in Litauen. Das ist der Plan. Nur wird daraus nichts.

Rot, wild und unberührt

Ich weiss nicht genau, wie lange ich schon unterwegs bin, als es passiert. Vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei. Ich weiss nicht einmal genau, auf welchem Streckenabschnitt ich mich gerade befinde. Ich weiss nur, dass es mich trifft wie der Blitz. Ein Rot, so intensiv wie ich es zuvor noch nie gesehen habe. Ich reibe mir noch die Augen und blinzle etwas irritiert in Richtung Straßenrand, da schießt es mir schon wieder in die Optik. Rot! Rot! Rot! Überall Rot! Mannomann! Und was für eins! Ich bin umgeben von einem Meer aus Mohnfeldern. Und in diesem Moment kommt es mir vor als hätte ich noch nie etwas Schöneres gesehen. 


Ich steige aus, laufe etwas umher, mache Fotos und merke erst jetzt, in was für einer außergewöhnlichen Landschaft ich mich eigentlich befinde. Man weiß nicht, was Liebe ist, bevor man die eine, wahre Liebe trifft - pflege ich oft zu sagen. Jetzt ist mir danach, diese Weisheit zu erweitern. Man weiß nicht, was echte Natur ist, bevor man sie mit eigenen Augen gesehen hat. Ja! Am liebsten würde ich es über die Felder schreien. Ganz laut. Nur hören würde mich wohl niemand. Denn ich stehe wirklich allein auf weiter Flur - mitten in echter und unberührter Natur. 

Ach, was wird bei uns in Deutschland oft für ein Brimborium gemacht - um ein einziges, angelegtes Mohnfeld. Kaum ist es erblüht, werden tonnenweise Menschen mit Fotoapparaten in Bussen herbei gekarrt. Neben dem Mohnfeld eröffnet eine Mohntenne. Dahinter der Mohnkiosk. Irgendjemand druckt Mohn-T-Shirts und verkauft sie. Und ja: oft wird sogar Eintritt verlangt, damit man Fotos machen darf - im Mohnfeld. 

Und hier? Hier darf der Mohn noch Mohn sein. Keiner macht ein Geschäft daraus. Er wächst wie es ihm passt. Allerlei bunte Korn- und Wiesenblumen tun es ihm gleich. Wo bin ich hier eigentlich? In einem Rosamunde-Pilcher-Film?


Reichlich Nahrung und betörende Düfte

Nein, ich bin immer noch in Polen, genau gesagt: nahe dem Örtchen Barczewo, nordöstliches Ermland-Masuren - wenn ich Google Maps vertrauen darf. Und mit einem Mal steht nicht mehr die Fahrt nach Litauen im Vordergrund, sondern dieses herrliche Land, das ich gerade durchquere. Ich schalte das Gedudel des Radios aus und fahre weiter, während meine Blicke systematisch von links nach rechts und wieder zurück wandern, um alles zu erfassen und zu durchkämmen, was jenseits der Straße liegt. Es dauert nicht lange bis mir auffällt, dass es hier unglaublich viele Störche gibt. Fast in jedem Feld steht einer. Aber noch beeindruckender: eigentlich hat jeder Ort hier sein eigenes Storchenpaar. Die dicken Nester sind einfach überall: auf Dächern, Schornsteinen oder extra angelegten Pfählen. Ich habe noch nie soviel Störche an einem Tag gesehen - ach... in meinem ganzen Leben noch nicht!

 


Störche sind ein Zeichen dafür, dass die Natur intakt ist. Das stand mal in einem Fachmagazin. Sie leben hauptsächlich von Fröschen und Nagetieren, die sie auf Wiesen und Feldern fangen. Gelangen durch intensive Landwirtschaft zu viele Pestizide in den Boden, können sich die typischen Beutetiere des Storchs nicht vermehren. Folglich haben auch die Störche kaum Überlebenschancen. Doch hier - in Masuren - bietet die Natur reichlich Nahrung. Nicht nur für Störche.

Nahe Mragowo parke ich mein Wohnmobil erneut am Straßenrand und beginne eine spontane Wanderung. Ich kann nicht anders. Ich marschiere und marschiere und komme mir dabei vor als würde ich eine Zeitreise machen. Zurück in meine Kindheit. Es ist der Duft der Wiesen und Wälder, der mich in Gedanken 30 Jahre zurück reisen lässt. Mir kommen Erinnerungen... wie ich mit Oma und Opa Walderdbeeren pflückte, Pilze sammelte, Heu wendete und stundenlang unter dem großen Flieder vor dem Haus lag, der jedes Jahr so üppig blühte und uns mit seinem Odeur betörte. All diese Düfte sind hier! Real! Die Luft ist voll davon.

Nur meine Hightech-Wanderstiefel passen plötzlich nicht mehr. Ich muss sie ausziehen und barfuss laufen. Haben wir doch früher auch so gemacht. Funktionskleidung - die gab es damals gar nicht. 

Ich seufze tief und laufe weiter. Die Füsse nackt. Der Geist plötzlich ganz klar. Als wäre ich nun besser "connected" - wie man so schön neudeutsch sagt. Also: verbunden. Mit dieser Natur. Oder der Welt im Allgemeinen. Nein, eine Esoterik-Tante bin ich nun wirklich nicht. Aber trotzdem fühle ich mich nun anders.

"Man braucht nur eine Insel - allein im weiten Meer"

Ich gehe schon eine ganze Weile, tief in mich selbst versunken, als ich eine kleine Siedlung entdecke.  Ach Du meine Güte! Der Sandweg, auf dem ich die ganz Zeit lief, war also eine ernst zu nehmende Strasse. Und hier hinten leben tatsächlich Leute? Ja, tun sie. Ich sehe sogar Kühe. Und - na klar - schon wieder ein Storch!


Ich kenne die Menschen nicht, die hier leben. Doch ich beneide sie. Sie haben sicher kein fettes iPhone - so wie ich. Oder ein Wohnmobil. Sie haben, so wie es aussieht, nicht einmal ein Auto. Dafür aber einen klapprigen, fast museumsreifen Traktor. Sie tragen keine Funktionskleidung, sondern farblich recht gewöhnungsbedürftige Ober-Hemden. Aber weiß Gott... sie sehen so verdammt glücklich aus! Der Mann mäht mit einer alten Sense Gras. Die Frau beackert mit ihren schwitzenden Händen die Gemüsebeete. Ab und zu lächeln sich die beiden zu. Und sonst passiert nichts. Es ist einfach ruhig. Frieden. Wunderbarer Frieden!

Ich denke an meine Lieblingsdichterin Mascha Kaleko und dass sie einmal schrieb "Man braucht nur eine Insel - allein im weiten Meer. Man braucht nur einen Menschen - den braucht man aber sehr."

Vielleicht ist es die erste wirklich bedeutende Erkenntnis für mich - auf dieser Reise. Die Erkenntnis, dass ich gar nicht so heimatlos bin, wie ich immer dachte. Ich habe mit meinen 36 Jahren vielleicht noch immer nicht die Insel der Glückseligkeit gefunden, also den Ort, an dem ich den Rest meines Lebens verbringen möchte. Doch es gibt diesen einen Menschen, der mir so etwas wie Heimat gibt. Im Herzen. Egal, wo ich bin und was ich tue. Die eine "Sache", die mich wirklich reich macht, kann also niemand sehen und kann mir niemand weg nehmen. Sie ist immer bei mir...!

Ich beschließe, dass Masuren nun kein Durchgangsland mehr ist für mich. Ich möchte bleiben. Wenigstens noch einen Tag. Mal sehen, wie viel ich noch von diesem Land und den Menschen, die hier leben, lernen kann.

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Kommentare: 2
  • #1

    Martin (Freitag, 15 Juli 2016 22:01)

    Danke für die wunderschönen Eindrücke Päti

  • #2

    Anni Pepper (Samstag, 23 Juli 2016 11:03)

    Wunderbar sind Deine Ausführungen und Erkenntnisse. Der Weg zu uns selbst ist die weiteste Reise in unserem Leben. Wer das Wichtige vom Unwichtigen trennen kann, ja in seinem tägliches Leben gelassen anwenden kann, hat schon ein großes Stück des Weges zurückgelegt. Du reist somit mit leichtem Gepäck! GRATULIERE