Der Tod per Beschluss - und der Kampf dagegen

Keine Auszeit an der Ostseeküste

Autorin: Petra Daniela Stein

Ich liebe Wasser. In jeder Form. Flüsse, Seen, Teiche, Tümpel... Aber am meisten liebe ich: das Meer! Ich muss nicht unbedingt hinein springen. Hier an der polnischen Ostseeküste wäre das auch sicher ein recht kaltes Vergnügen. Aber das Betrachten der Wellen, wie sie brechen und brechen und unaufhörlich an den Strand rollen... das ist ein Anblick, der mich unheimlich entspannt. Und dafür bin ich hier, in Stegna an der polnischen Küste - zum Entspannen!

Die Tage in Niederschlesien waren so erlebnisreich und intensiv, dass ich jetzt ein wenig salzige Meeresluft zwischen meinen Haaren und auf meiner Haut spüren möchte. Ein paar hübsche Naturfotos dazu hätte ich auch noch gerne. Doch irgendwie merke ich schon jetzt, dass mir die kleine Auszeit nicht ganz gelingen wird. Warum? Ich spreche es gegen den Wind. Niemand hört es. Nur ich. Ein einziges Wort: "Kaliningrad"! Doch NEIN! Nicht weiter denken. Nicht jetzt...

Schmierige Grüsse aus der Luft

Mein Ausgangspunkt Stegna könnte für das, was ich vorhabe, nicht günstiger liegen. Ich muss nur wenige Kilometer in östlicher Richtung fahren und schon befinde ich mich auf der so genannten Frischen Nehrung - einer wunderschönen, schmalen Landzunge, die aus dem polnischen Festland heraus ragt und es wie ein schützender Bogen auf einer Länge von ca. 70 Kilometern umgibt. Die Frische Nehrung ist ein ausgewiesenes Naturschutzgebiet und Brutstätte für tausende Kormorane. Die will ich finden! Ich parke mein Wohnmobil nahe dem Örtchen Katy Rybackie und wandere tief in den Wald hinein. Ich habe nur eine Faltkarte auf Polnisch bei mir, die mir mit rudimentären Symbolen den Weg anzeigt. Irgendwie traue ich ihr aber nicht. Ich verlasse mich mehr auf meine Ohren. Denn die nehmen die Rufe der Kormorane ziemlich eindeutig wahr. Gerade als die teils schrillen Laute beginnen mich an den Hitchcock-Film "Die Vögel" zu erinnern, stehe ich plöztlich vor dem Schild: Rezerwat Kormoranow. Jetzt sind es nur noch wenige Meter... Ja, da sind sie! 


Ein bisschen unheimlich und unwirklich ist es schon - da unten auf der Erde zu stehen, während sich in den Bäumen und der Luft über meinem Kopf tausende Kormorane tummeln. Es ist die größte Vogel-Kolonie Polens und eine der bedeutendsten in ganz Europa. So unauffällig wie möglich schleiche ich um die Bäume herum, den Blick immer nach oben gewandt, bis, ja, bis es passiert: Platsch! Der erste Kormoran-Gruss in Form eines fast flüssigen Häufchens aus der Luft. So langsam verstehe ich, warum ich die einzige Besucherin an diesem Tag bin. So viel Natur von oben ist vermutlich nicht für jeden was. 

Das Versprechen, das ich nicht hielt

Nachdem ich das Kormoran-Gebiet durchquert habe, liegt der Strand vor mir. Weiß. Fein. Menschenleer. Ich lasse meinen Blick schweifen und mir wird unwillkürlich flau im Magen - trotz herrlicher Kulisse. Ich kann die Gedanken nun nicht mehr aufhalten. Sie strömen mit voller Wucht in meinen Kopf und zwingen mich, stehen zu bleiben. Ich muss nachsehen. Ich muss einfach! Mitten auf der Landzunge Frische Nehrung, etwa 20 bis 30 Kilometer rechts von mir, muss ein Grenzposten stehen. Dahinter beginnt Kaliningrad, das frühere Königsberg. Mit meinem Teleobjektiv zoome ich das Land in der Ferne heran - so gut es geht. 

Seit 1946 gehört Kaliningrad, das ich durch mein Objektiv nun erahnen kann, zu Russland. Für mich ist es mehr als eine kleine russische Enklave zwischen Polen und Litauen. Es ist ein Land, in dem ich Familie habe - eine Familie, die ich noch nie gesehen habe. Ich weiß, dass sie da ist. Denn Opa hat ihr geschrieben solange er lebte. Diese Familie war ihm so wichtig, dass er mich kyrillische Schriftzeichen und russische Sätze lehrte, damit ich das Schreiben eines Tages übernehmen könnte, wenn er nicht mehr dazu im Stande sein würde. Doch es kam ganz anders...

Opa starb 2003 und ich habe nie nach Kaliningrad geschrieben. Nicht ein einziges Mal. Ich ließ den Kontakt zu dieser Familie abreißen. Und jetzt stehe ich hier und weine. 


Eine Geschwisterliebe - stärker als der "todeserklärende Beschluss"

Mein Opa war 1944 allein - auf seiner Flucht aus Litauen. Doch ein Einzelkind war er nicht. Er hatte eine Schwester. Helene. Und die Geschichte, wie mein Opa sie im Krieg verlor und über 30 Jahre lang um sie kämpfte, ist die berührendste und schönste Geschichte, die ich kenne. Sie sagt viel darüber aus, was für ein Mann er war.

Opa hat nie erzählt, warum er 1944 - als die Rote Armee Stalins in Litauen vorrückte - ausgerechnet nach Bayern flüchtete, seine Schwester Helene aber nach Königsberg, dem heutigen Kaliningrad. Sie war ein Jahr älter als er. Vielleicht war sie damals bereits verlobt oder verheiratet und folgte ihrem Gatten? Opa erzählte nie mehr als nötig. Vor allem nicht, wenn die Geschichten mit Gewalt oder Krieg zu tun hatten und für mich als Kind beunruhigend gewesen wären. Er erzählte mir z.B. nicht, dass er im Krieg eine Kugel abbekam und um ein Haar sein Leben gelassen hätte. Solche Dinge erzählte mir Oma. Heimlich. Sie war es auch, die mir irgendwann sagte, dass Opa jahrzehntelang nach seiner Schwester Helene gesucht hatte und sie nie aufgeben wollte, obwohl sie bereits 1954 für tot erklärt worden war. Opa vertraute in vielen Dingen seinem siebten Sinn. Er war der Meinung "Helene lebt" - also musste sie noch leben.

Helene Stein, * 29.01.1908 in Panevezys (Litauen)
Helene Stein, * 29.01.1908 in Panevezys (Litauen)

Opa sagte nie, dass er irgendjemanden liebt. Aber er tat Dinge, die vermutlich kein anderer getan hätte. Und der einzige, logische Grund dafür muss Liebe gewesen sein. Eine tiefe, feste und unerschütterliche Liebe.

Opa dachte immer an seine Schwester Helene! Auch als er 1958 von der Bundesrepublik Deutschland eine finanzielle Entschädigung erhielt - für den Verlust seines Elternhauses in Litauen. 7.000 Mark waren es, die ihm zugesprochen wurden. Damals viel Geld. Mein Opa hätte es nehmen und für sich verwenden können, für den Aufbau einer neuen Bleibe in Bayern und die Absicherung seiner neuen Familie samt frisch gebackener Ehefrau und bald schon fünf kleinen Kindern. Doch er tat es nicht.

Konstantin Eduard Stein mit Tochter Christa
Konstantin Eduard Stein mit Tochter Christa

Opa nahm sich nur die Hälfte der Entschädigung, 3.500 Mark, und bewahrte die andere Hälfte für seine Schwester Helene auf.

Ich weiß, dass dieses "eigenwillige" Verhalten von Opa meine Oma regelmäßig zur Weißglut trieb. "Dos gutte Geld aufbewahren für eine Tote? So was Tummes!", soll sie oft in ihrem schlesischen Dialekt krakeelt haben. Doch Opa störte das nicht. Er lebte seine Auffassung von Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit und Liebe. Das Geld blieb unangetastet! 17 Jahre lang! Und dann, nach schier unzähligen Versuchen Helene über Suchdienste ausfindig zu machen, kam sie tatsächlich... im Jahr 1975: die erste Nachricht von der Schwester! 

Wie gerne wäre ich bei dem Wiedersehen dabei gewesen - ein Jahr später, 1976. Es muss einfach fulminant gewesen sein! Ein einziges Fest! Doch 1976 war ich leider noch nicht geboren. Ich lernte Helene nur über Fotos kennen und manchen Brief, den sie Opa schrieb. Jedes Jahr kamen Briefe. Viele Briefe. Viele Jahre lang. Dann erlitt Opa seinen ersten Schlaganfall und konnte nicht mehr schreiben. Manche Antwort an seine Schwester diktierte er nun Oma oder Oma schrieb ihre eigenen Antworten. Sie schrieb die persönlichen Zeilen auf Deutsch, ich die Adresse auf dem Briefumschlag in kyrillischen Lettern. Ein umständliches Verfahren. Später schnitt Oma Helenes Adresse von den alten Umschlägen einfach aus und klebte sie als Empfänger auf ihre neuen Briefe. So musste ich mir gar keine "Mühe" mehr machen. 

Und irgendwann wurden die Briefe weniger... Auch von Helene. Es muss Mitte der 1990er Jahre gewesen sein als sie zum letzten Mal schrieb. Krakelige Zeilen - als hätten ihre Hände dabei stark gezittert. Danach landete nie wieder ein Brief von ihr in Opas Briefkasten. Niemand sprach laut aus was alle dachten. Nur Oma flüsterte es - hinter vorgehaltener Hand: "Helene ist tot!"

Ich sehe es vor meinen Augen als wäre es gestern gewesen: wie Opa eines Tages vor der Schublade stand, in der er ihre unzähligen Briefe aufbewahrte. Er stand vor der Schublade und starrte hinein. Minutenlang. Dann schloss er sie. Für immer! Und ich tat nichts. Ich brach das Versprechen, das ich Opa gegeben hatte. Ich schrieb nicht Helenes Kindern oder Kindeskindern und fragte nach. Ich ließ die Verbindung nach Kaliningrad abreißen, weil ich jung war und dumm und nicht wusste, was eine Familie ist oder bedeutet. Erst als Oma starb und nur vier Monate später auch Opa - da spürte ich es plötzlich. Und es tat mehr weh als alle Schmerzen, die ich je empfunden habe. Ihr Verlust zerriss mich, entwurzelte mich und schleuderte mich wie ein Blatt in den Wind. 

Ich weiß, dass diese Reise und alles, was sie an Gedanken und Erinnerungen in mir hoch holt, erst der Anfang ist. Es ist der Anfang einer Reise in die Vergangenheit. Und der Anfang einer Reise zu mir selbst - zu dem Menschen, der ich tief in meinem Herzen bin, und der bekommen soll, was er verlor: Wurzeln! 

Ich weiß, dass ich eines Tages, vielleicht schon bald, mehr tun werde als nach Kaliningrad zu schreiben. Ich werde diese Grenze, die vom polnischen Strand aus betrachtet, nur noch wenige Kilometer entfernt liegt, überschreiten und Opas Familie, meine Familie suchen. Helene werde ich nicht mehr sehen. Sie ist tot. Genau wie mein Opa. Doch auf dem kleinen Foto, das ich bei mir trage, gibt es ein Gesicht, das ich unbedingt finden möchte. Es ist das Gesicht einer anderen Helene - das von Helene Konstantinowna Zewzukowa (Spitzname: Leni), geboren am 16. März 1972 in Kaliningrad. Auf dem Foto ist sie gerade mal vier Jahre alt, pausbackig und trägt eine überdimensional große Schleife im Haar. Leni ist Helenes Enkelin!

Genau wie Opa es so oft tat, möchte ich meinem siebten Sinn vertrauen und daran glauben, dass Leni lebt - und dass sie da sein wird, wenn ich komme.

Helene Zewzukowa (geb. Stein) mit ihren erwachsenen Kindern Josef Osipowiz und Ewgenia-Helene Josufowna sowie Enkelin Helene Konstantinowna
Helene Zewzukowa (geb. Stein) mit ihren erwachsenen Kindern Josef Osipowiz und Ewgenia-Helene Josufowna sowie Enkelin Helene Konstantinowna

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Kommentare: 1
  • #1

    pepperanni (Donnerstag, 30 Juni 2016 22:12)

    Die Geschichte macht sprachlos und wirft doch so viele Fragen auf.. Eine brennt auf meiner Zunge- wieviel Vergangenheit können wir in unserem Leben mittragen und wurde sie nicht schon getragen?