Die alte Heimat - eine unbekannte Welt

Von der Oberlausitz ins Ungewisse

Autorin: Petra Daniela Stein

Ein lautes und permanentes "I-aah I-aah" reißt mich aus meinen Träumen. Es sind die Rufe eines Esels. Vielleicht sind es auch mehrere. Ich kann nichts sehen. Die Rollos meines Wohnmobils sind noch unten. Ich habe die Nacht auf dem Gelände eines Wild- und Ziegenparkes in der Oberlausitz verbracht. Als ich die seitliche Schiebetüre meines Kastenwagens öffne, sehe ich, dass ich ganz allein auf weiter Flur stehe. Keine anderen Campinggäste. Die Sonne zeigt mir ihr schönstes Lächeln, Kiefernduft strömt in meine Nase... Wow! Was für ein herrlicher Morgen! Nur schade, dass ich ihn nicht richtig genießen kann.

 

Ich bin aufgeregt und das Gefühl wird immer schlimmer als ich das Gelände verlasse und mein Fahrzeug zur nahegelegenen Autobahn steuere. 40 Kilometer sind es nur noch. Bis zur Grenze nach Polen. Bin ich eigentlich bescheuert? Will ich da wirklich rüber? Was hat man mir nicht alles über Osteuropa erzählt... Ein Schauermärchen nach dem anderen! Von durchtriebenen Schlitzohren, Diebstählen, KO-Gas, zerlöcherten Straßen, korrupten Polizisten und und und... "Als Frau würde ich da nie alleine rüber fahren!" meinte ein Bekannter zuletzt. Und dennoch tuckere ich jetzt auf die Grenze zu. Nein! Moment! Ich reiße das Lenkrad noch einmal herum. Ein kleiner Umweg über Bautzen soll mir die Zeit verschaffen, die ich anscheinend noch brauche, um mir klar zu werden, ob ich tatsächlich für diese Reise bereit bin.

Ich bin 36 Jahre alt - etwa so alt wie mein Opa seinerzeit war als er diese Reise antrat. Nur in umgekehrter Richtung; und nicht einmal annähernd so komfortabel ausgestattet wie ich. Mein Opa legte 1944 die Strecke von Litauen über Polen nach Deutschland zurück. Den größten Teil des Weges lief er zu Fuß. Er litt Hunger, schlief im Freien und hatte vermutlich schreckliche Angst vor der Zukunft. Denn er war auf der Flucht! In seinem Heimatland Litauen konnte er nicht mehr bleiben. Der Zweite Weltkrieg näherte sich damals gerade seinem Ende. In Opas Heimatgemeinde wütete nun die Rote Armee Stalins, riss Familien auseinander, brannte Häuser ab und schickte litauische Männer in Arbeitslager nach Sibirien. Nein! Mein Opa wollte nicht nach Sibirien. Er hatte vermutlich nicht viele Möglichkeiten. Ich hab ihn nie gefragt, warum er nach Süddeutschland flüchtete, seine Schwester jedoch nach Königsberg (heute russisch: Kaliningrad). Ich hab ihn so vieles nicht gefragt...

Jetzt ist Opa tot und sein Verlust hat ein tiefes schwarzes Loch in meine Seele gebrannt. Ich habe diesen Mann geliebt und verehrt wie keinen anderen! Er war der einzige Mensch, zu dem ich je aufgeblickt habe. Denn er hatte so viele Talente, war so geschickt, so stark, so tapfer... und vor allem: so gerecht!

Konstantin Eduard Stein
Konstantin Eduard Stein
Flüchtlingsausweis von 1946
Flüchtlingsausweis von 1946

Je intensiver ich an meinen Opa denke, desto klarer wird mir wieder, warum ich nun mit dem Wohnmobil auf die polnische Grenze zusteuere. Nachdem ich 13 Jahre um den Verlust meines geliebten Großvaters getrauert habe, geht es mir jetzt nicht nur darum, herauszufinden, wo er eigentlich her kam, wie er dort - in Litauen - gelebt hat und wie viel von seiner alten Heimat noch zu finden ist. Ich bin auch auf der Suche nach mir selbst. Ich möchte wissen, wie viel Opa in mir selbst steckt, wer ich bin und warum ich im Alter von 36 Jahren - genau wie er damals - keine Heimat habe, keinen Ort, wo ich hingehöre. Bin ich so mutig und stark wie er, dass ich diese Reise - in umgekehrter Richtung - bewältigen kann? Und werde ich am Ende vielleicht auch - wie er - etwas finden, das mir einen Anker gibt und  die Kraft für einen Neubeginn?

All die Fragen, die sich um meinen Großvater, meine Wurzeln und den Sinn meines Lebens ranken, vernebeln mir derart die Sinne, dass ich gar nicht richtig mitbekomme als ich über die Grenze fahre. Plötzlich bin ich schon da. Das ist also Polen! Hallo und herzlich willkommen! Sieht dem ersten Eindruck zufolge gar nicht mal so anders aus als Deutschland. Kein Loch in der Straße, keine Verbrecher, die mich verfolgen. Also, was soll denn eigentlich dieser ganze Quatsch? Warum hab ich mir überhaupt so viele Schauermärchen angehört? Ich bin eine Stein! Stein bleibt Stein - hat mein Opa immer gesagt. Keine Ahnung, was er damit gemeint hat. Ich denke, der Name Stein war für ihn Sinnbild für Stärke, Kraft und Widerstandsfähigkeit. Ja, das gefällt mir. Ich kann alles schaffen! Genau wie mein Opa! Zumindest rede ich mir das nun sehr wirksam ein. Ab jetzt habe ich Etappenziele zu erfüllen. 


Es ist als säße Opa jetzt neben mir - mit diesem verschmitzten Lächeln, das er immer auflegte, wenn er vergnügt war. Zuletzt, im Alter von 94 Jahren, hatte er nur noch einen einzigen langen Eckzahn im Mund. So ein künstliches Gebiss wollte er nicht. "Pfff... Geld raus schmeißen für so einen Mist?" hatte er immer gesagt und gelacht. Nein, nein. Das kam nicht in Frage. Genauso wie Geld zurücklegen für die eigene Beerdigung. "Wenn ich werde anfangen zu stinken, dann werden sie mich schon verscharren", war seine Ansicht. Auch nach diesem Satz lachte er jedesmal verschmitzt und vergnügt mit nur einem einzigen Zahn im Mund.

Ja, Opa ist bei mir. Ich spüre es. Und jetzt werde ich mich meiner ersten Aufgabe auf dieser Reise widmen: ich werde das ehemalige Wohnhaus von Oma in Niederschlesien finden. Sie war kein Flüchtling wie Opa. Sie war eine Heimatvertriebene. Eine andere Geschichte, aber keine minder interessante. Jetzt werde ich sie aufrollen.

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